Poetry Slam Text von Marvin
Was ich dir schon immer mal sagen wollte … Opa.
Vor dir hat hier am Tisch niemand mit Politik angefangen … und zwar nicht ohne Grund. Doch irgendwo im Übergang zwischen Hauptgang und Nachtisch hast du angefangen: Jetzt wird mal richtig Ordnung geschafft, da wird vor nichts Halt gemacht. „Heiligabend … ach, wie schön das doch wieder ist … so im Kreise der Familie … man weiß ja ned … man weiß ja ned wie lange das noch erlaubt bleibt. Bei denen ganzen Muslimen, die da kommen … das Gesindel! Ruckzuck verbieten sie uns das alles hier. Ja! Ja! So isses doch!“
Stille macht sich breit … und … verfliegt dann langsam wieder.
Ich blicke über den Tisch zu meiner Schwester. Sie versteht, was ich gerne sagen würde, denn das hier ist ja nicht das erste Mal. Es gab ja in der Vergangenheit schon so viele schöne Gelegenheiten, sich auf Familienzusammenkünften die Welt von den Leuten erklären zu lassen, die aufgrund ihres Alters ja so gut Bescheid wissen.
Aber dieses Mal reicht es mir.
Das wollte ich dir schon immer mal sagen, Opa.
Du bist so egoistisch. Du wirst hier niemals unseren Widerspruch zulassen.
In deiner Welt gibt es sowas nicht, dort hast du das Sagen.
In deiner Welt sind geflüchtete Menschen eine Bedrohung, überflüssig, einfach zu viele und alles Verbrecher. Deine Welt soll ordentlich sein und deutsch und am besten so wie früher.
In deiner Welt, da regnet es kaleidoskopisch Gartenzwerge und karierte Hemden … und rollenweise Stacheldraht.
Deine Gedanken und Gefühle sind diszipliniert. In Reih und Glied marschieren sie … rückwärts, alle im Gleichschritt, alle in wütenden Trauermärschen und Montagsspaziergängen. Widerwillig halten sie alle ihre rechten Arme fest. Im Stechschritt geht es da voran in die 50er Jahre. Aber was du dir zurückwünschst, war niemals da.
Das wollte ich dir schon immer mal sagen.
In deiner Welt ist kein Platz für Vielfalt, für Ecken und Kanten. Das Einfache, das Eindimensionale charakterisiert deine Gegenwart. Hinweg mit den Diskussionen und Fakten.
Dein Schwarz-Rot-Gold ist braun und deine Welt so klein. Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt, soweit reicht sie. Und alles, was du wissen möchtest, passt in drei Strophen Nationalhymne.
Das wollte ich dir schon immer mal sagen.
In deinen Stammtischparolen flattert die Kaiserreichsflagge umher, und dein Herz trägt Uniform und ärgerlich knirschende Lederhandschuhe.
Auf deiner Stirn verlaufen Schützengräben, und in deinem Temporallappen werden Denkmäler eingerissen.
Das wollte ich dir schon immer mal sagen.
Deine Alternative ist die Retrospektive.
Du Montagsmarschierer
Du Aber-Sager
Du Verfassungsverbieger
Du Kulturverfestiger
Du Traditionsfanatiker
Du Vaterlandsretter
Du Farbenblinder …
Das will ich dir sagen … Aber ich tu es nicht … denn es ist Heiligabend und ich will keinen Streit heute und mit dem Rauslassen meiner Wut mach ich alles noch schlimmer. Meine Schwester versteht meinen Blick … auch sie sagt nichts. Das Thema am Esstisch hat längst gewechselt.