Poetry Slam Text von Yvonne
Meine Oma ist nicht wie andere Omas.
Also doch, irgendwie schon, in gewisser Weise, denn wie fast jede andere Oma besitzt auch meine Oma typische Eigenschaften, die Omas zu dem machen, was sie für uns sind. Wie diesen ja fast unbeschreiblichen Omi-Charme, dem sich kaum einer entziehen kann und diese noch liebenswürdigere Art, den Enkelkindern jeden Wunsch von den Lippen ablesen zu wollen.
Aber meine Oma ist noch mehr.
Meine Oma, die in ihrer Ehe mit meinem Opa eine Diskussionskultur entwickelt hat, die eigentlich fernsehreif gewesen wäre, hat in 46 Jahren Ehe gelernt sich zu behaupten. Nicht gegenüber meinem Opa, so wie ihr das jetzt denken könntet. So ist das nicht gemeint. Sie hat weiterhin gelernt, neben ihrem Dickkopf auch ihre Meinung hochgradig argumentativ zu vertreten und sich nur durch äußerst gute Argumente von ihrer Meinung abbringen zu lassen.
Naja, im letzten Jahr, 6 Jahre nach dem Tod meines Opas, hat meine Oma entschieden, das Leben alleine, in der nun zu großen Wohnung, die beide zuvor bewohnt hatten, aufzugeben. Sie lebt jetzt in einer kleinen kuscheligen Wohnung in einem Betreuten Wohnen und lebt immer noch ihr Leben, und das sogar aktiver als zuvor. Sie managt den Alltag zwar allein, nur das Mittagessen nimmt sie mit der restlichen Bewohnerschaft zusammen ein, denn ein wenig Konversation und Pflege des sozialen Umfeldes muss ja auch mal sein.
Und ja, meine Oma kann manchmal schon recht aufbrausend, stur, aber auch echt mutig sein. Doch hat mir ein Gespräch mit ihr gezeigt, dass mir besonders eine Eigenschaft noch fehlt.
Nämlich Mut.
Denn meine Oma hat genug. Hat genug von dieser rechten Laberei und ist jetzt mit 79 Jahren endlich bereit, jedem über den Mund zu fahren, der meint, andere aufgrund irgendwelcher Eigenschaften zu diskriminieren. Ob nun wegen dessen Hautfarbe, Herkunft oder sexueller Orientierung.
So regte sie sich einmal furchtbar darüber auf, dass ein Mitbewohner ihres Wohnheims, von dem ich behaupten würde, das braune Gedankengut ist noch seins, einen Pfleger, der in dieser Einrichtung arbeitet, mit einem… ich formuliere das hier mal politisch vertretbar… mit einem „Na, du Schwarzer Mann“ begrüßen zu müssen.
Für meine Oma war das schon zu viel, auch wenn sie sich hier zurückhielt und nur leise ihre Meinung kundtat, da ihr für Lauteres doch noch der Mut fehlte.
Doch als am gleichen Ort, im Speisesaal, gleichwohl zu einer anderen Zeit, ein weiterer Kommentar fiel, fiel auch bei meiner Oma die große dunkle Wand der Angst, und Mut trat an die oberste Stelle. Thema war, man mag es kaum glauben, ein homosexueller Mann. Nur dass dieser der Chef der Wohneinrichtung war und seine sexuelle Orientierung hinreichend bekannt.
Es begab sich nun, dass eine Tischnachbarin meiner Oma laut, nachdem der Chef vorbeigegangen war, keifen musste:
„Ist der denn der Mann oder die Frau? In so einer ‚Beziehung‘ kann man sowas ja auch nicht erkennen. Ich find das nicht gut und früher hätte es sowas ja auch nicht gegeben.“
Und auch wenn diese Tischnachbarin den Chef des Wohnheims wegen seiner sexuellen Orientierung nicht abgewertet, sondern eher bewertet hatte, war auch das für meine Oma zu viel und sie hielt sich nicht mehr zurück. Jetzt hatte sie den Mut etwas zu sagen. Und sie sah auf und sagte:
„Zu allererst ist er ein Mensch! Und seine sexuelle Orientierung allein seine Sache.“
Gespräche und Diskussionen mit meiner Oma bedeuten mir sehr viel. Ich lerne viel, erfahre Geschichten von früher, auch wenn ich merke, dass sie nicht alle Erinnerungen und Erfahrungen von früher teilen will.
Und trotzdem lehrt mich meine Oma noch etwas viel Wichtigeres, denn sie gibt mir Hoffnung. Hoffnung, dass nicht alle Menschen einem zustimmen, der meint muss, das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte als Vogelschiss bezeichnen zu müssen.
Mir wird auch klar, dass die Welt mehr Menschen wie meine Oma braucht. Menschen, egal welchen Geschlechts, welchen Alters, welcher Hautfarbe, welcher sexuellen Orientierung oder welcher Herkunft, die mutig werden, aufstehen und etwas sagen.
Menschen, die handeln. Menschen, die diesen Mut haben.
Was ich gerade begreife, ist, dass meine Oma ein Vorbild ist. Sie widerspricht dem Klischee der alten Generation, die gegen alles und jeden Neuen sind. Im Gegensatz zu vielen anderen hat sie gehandelt.
Warum habe ich das noch nicht geschafft? Wo ist mein Mut? Ich will nicht so lange warten wie meine Oma, und auch wenn sie lange gebraucht hat, ist sie trotzdem mein Vorbild.
Wir müssen mehr wie meine Oma sein. Wir müssen aufstehen und etwas sagen… Ich muss aufstehen und etwas sagen. Ich. Du. Wir. Wir müssen aufstehen und handeln, denn wir können Diskriminierung, egal welcher Art, nicht einfach so stehen lassen.